Es war ein sonniger Tag im Meer, als die kleine Meerjungfrau Arielle aus ihrem Palast am Meeresgrund auftauchte. Die Sonnenstrahlen brachen sich im klaren Wasser und tauchten die Korallenriffe in ein magisches Licht. Arielle liebte es, zwischen den bunten Fischen zu schwimmen und ihre Unterwasserwelt zu erkunden.
„Guten Morgen kleine Meerjungfrau!“, grüßte sie einen ihrer besten Freunde, den Clownfisch Nemo. „Wollen wir zusammen auf Erkundungstour gehen?“ Nemo quiekte fröhlich und schwamm neben ihr her. Lachend erzählte Arielle: „Letzte Nacht hatte ich den merkwürdigsten Traum. Ich war kein Meermädchen mehr, sondern hatte Beine! Ich konnte an Land laufen und durch die Wälder streifen.“ Nemo sah sie neugierig an. „Beine klingen seltsam. Ich bin froh, dass wir Flossen haben und im Wasser leben.“
Die kleine Meerjungfrau nickte. Auch sie war meistens zufrieden mit ihrem Leben unter Wasser. Aber manchmal, wenn sie die Schiffe an der Wasseroberfläche vorbeiziehen sah oder Fischer mit ihrer Beute an Land zurückkehrten, spürte sie eine geheimnisvolle Sehnsucht nach der Welt der Menschen. Was mochte dort alles auf sie warten?
Während Arielle und Nemo spielerisch zwischen einem Felsenmeer hindurchschwammen, bemerkten sie aufgeregte Stimmen. Ihre Schwestern Aqua, Cora und Andrina umkreisten aufgeregt einen jungen Delfin. „Erzähl es uns nochmal!“, bat Aqua den Delfin. Als die kleine Meerjungfrau und Nemo näher kamen, flüsterte der Delfin: „Ich habe heute Morgen ein prächtiges Schiff gesehen! So groß und schön habe ich noch keines gesehen. Und wisst ihr, was das Beste ist? Prinz Eric selbst war an Bord!“
„Prinz Eric?“, fragte die kleine Meerjungfrau neugierig. Ihre Schwestern quietschten vor Aufregung. „Der Junge Prinz, der einmal unser Reich regieren wird! Er soll so gutaussehend und tapfer sein.“, erzählte Cora träumerisch. Auch wenn Arielle neugierig war, fand sie die Vorstellung, einen Menschen zu treffen seltsam. Sie waren so anders als sie. Trotzdem lauschte sie gespannt, wie der Delfin vom prächtigen Schloss und dem Leben der Menschen an Land berichtete.
In den nächsten Tagen war das Gespräch des Delfins das tägliche Thema unter den Meerjungfrauen. Nur die kleine Meerjungfrau hatte immer noch ihre Zweifel. Eines Abends, als die Schwestern wieder vom gutaussehenden Prinzen schwärmten, fragte Arielle: „Wie sehen die Menschen wirklich aus? Und was ist mit ihren Füßen, können sie damit wirklich laufen?“ Ihre Großmutter lächelte weise. „Die Welt der Menschen ist wunderbar und geheimnisvoll. Vielleicht wirst du es eines Tages selbst herausfinden, meine kleine Enkelin.“
In den folgenden Wochen wurde Arielle immer nachdenklicher. Sie schwamm oft alleine umherspähend über die Oberfläche. Eines Nachts, als ein gewaltiger Sturm am Horizont aufzog, sah sie in der Ferne ein Schiff in Seenot. Wellen peitschten über Deck, die Matrosen kämpften verzweifelt gegen die Naturgewalten. Da sah die kleine Meerjungfrau eine Gestalt ins Meer stürzen. Ohne zu zögern tauchte sie hoch und zerrte den bewusstlosen Mann unter Wasser. Mit aller Kraft schwamm sie zurück zum Strand und zog den Fremden ans Ufer.
Als der Sturm endlich abzog und der Morgen dämmerte, erwachte der Fremde. Es war Prinz Eric selbst! Verwundert und dankbar blickte er sich um und entdeckte die kleine Meerjungfrau, die noch immer im flachen Wasser saß und ihn besorgt beobachtete. „Wer bist du? Du hast mich gerettet!“ Arielle wagte sich näher ans Ufer und erblickte zum ersten Mal ein menschliches Gesicht aus der Nähe. Seine blauen Augen waren so wunderbar. Sie konnte keine Worte finden und tauchte schnell weg. Aber das Bild von Prinz Eric und die Erkenntnis, dass die Menschen doch nicht so gefährlich waren, ließen sie nicht mehr los.
In den folgenden Tagen beobachtete die kleine Meerjungfrau den Prinzen heimlich vom Meer aus. Sie sah, wie er über ihren Strand streifte und immer wieder nach seiner Retterin suchte. Eines Nachmittags saß Eric einsam am Ufer, als Arielle allen Mut zusammennahm und vorsichtig aus dem Wasser stieg. „Hallo“, flüsterte sie leise. Eric fuhr erschrocken herum. „Du bist es! Du hast mir das Leben gerettet. Wie kann ich dir danken?“ Die kleine Meerjungfrau lächelte verlegen. „Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht.“
Von da an wurden die Begegnungen am Strand zu einer täglichen Routine. Jeden Abend suchte die kleine Meerjungfrau Prinz Eric auf und sie plauderten stundenlang miteinander. Eric erzählte ihr von seinem Leben auf See und im Schloss. Arielle berichtete von ihrer Unterwasserwelt und ihren Abenteuern. Sie verstanden sich auf Anhieb. Aber immer, wenn die Sonne unterging, musste Arielle zurück ins Meer und ihre Welt verlassen.
Ihre Schwestern waren entsetzt, als sie von Arielles waghalsigen Besuchen an Land hörten. „Die Menschen sind gefährlich! Sie werden dich nur ausnutzen!“, warnten sie sie. Auch ihre Großmutter sah besorgt aus. „Pass auf dich auf, meine kleine Enkelin. Nicht alle sind so gut wie Prinz Eric.“ Aber Arielle hörte nicht auf ihre Warnungen. Jeden Tag freute sie sich mehr auf ihre Treffen mit dem Prinzen.
Eines Abends, als besonders schöner Sonnenuntergang den Himmel in oranges und rotes Licht tauchte, geschah etwas Unerwartetes. Eric nahm zärtlich Arielles Hände. „Ich weiß nicht, wer oder was du bist. Aber ich habe mich in dich verliebt. Bitte sage mir deinen Namen.“ Die kleine Meerjungfrau schluckte. Wie sollte sie ihm die Wahrheit sagen? In diesem Moment versank die Sonne hinter dem Horizont und Arielle musste fort. Mit Tränen in den Augen sprang sie ins Wasser und tauchte in die Tiefe.
In den folgenden Tagen war Arielle ganz in Gedanken versunken. Sie liebte Eric, aber ihre Liebe war unmöglich. Als Meermädchen konnte sie nicht an Land leben und Eric nie die Wahrheit sagen. Verzweifelt irrte sie umhersinnend durch das Meer. Bis sie auf einer ihrer einsamen Touren einer alten Meerhexe begegnete. „Ich kann dir helfen deinen Prinzen zu gewinnen, kleine Meerjungfrau“, zischelte die Hexe. „Aber du musst einen hohen Preis dafür bezahlen.“ Neugierig und verzweifelt hörte Arielle ihrem Angebot zu. Wenn sie Beine bekäme wie die Menschen, könne sie mit Eric zusammen sein. Doch der Preis war hoch: Wenn Eric sie nicht heiratete und ihr ewige Liebe schwörte, würde sie wieder zum Meeresbewohner werden und in den Tod zurückkehren.
Mit klopfendem Herzen stimmte Arielle dem Vorschlag der Meerhexe zu. Obwohl ihre Schwestern und Großmutter sie warnten und ihr davon abrieten, sah Arielle keine andere Möglichkeit mehr, mit Prinz Eric zusammen zu sein.
Am nächsten Morgen machte sich die kleine Meerjungfrau auf den Weg zur Höhle der Meerhexe. Dort erwartete die Hexe sie bereits und begann sogleich mit ihren Zaubersprüchen. Arielle spürte, wie sich ihr ganzer Körper zu verändern begann. Es brannte und kribbelte, als sich ihre Flossen in schlanke Beine verwandelten. Schmerzerfüllt sackte sie im flachen Wasser zusammen. Als der Schmerz nachließ und sie ihre neuen Beine betrachtete, überkam sie Zweifel. Konnte sie als Mensch auf zwei Beinen überhaupt laufen?
Die Hexe gab ihr einen letzten Rat. „Beim ersten Sonnenaufgang an Land wirst du sterben, wenn der Prinz dich nicht liebt. Dann wirst du wieder eine Meerjungfrau.“ Zitternd machte sich Arielle auf den Weg zum Strand, wo Prinz Eric wie jeden Tag auf sie warten würde. Als sie ihn am Horizont ausmachen konnte, holte sie tief Luft und watete aus dem Wasser. Eric starrte sie fassungslos an, als sie nackt und barfuß auf ihn zutaumelte. Ihre ersten Schritte waren wackelig und unsicher. Würde ihre Liebe zu Eric reichen, um den Fluch der Hexe zu brechen?